Textblatt für die Sprachprüfung (2011)
1 Er hiess Alois, aber er nannte sich Ali. Alis Vater hatte
ein grosses Velogeschäft und war sowohl
2 im Geschäft als auch daheim sehr streng. Das hatte er von seinem Vater
gelernt. Und weil er
3 dank dieser Erziehung ein lebenstüchtiger, ehrenhafter und wohlhabender
Mann geworden war,
4 dachte er wohl, das sei eine gute Erziehung gewesen und seine Kinder bräuchten
eine ebenso
5 gute Erziehung. Er regierte mit Zuckerbrot und Peitsche.
6 Eines Tages kam Ali nach Hause und sagte beim Mittagessen: „Papa, ich habe einen Wunsch."
7 „So", antwortete der Vater, „und was für ein Wunsch ist das?" — „Sergio möchte auch ein Velo
8 haben." — „Wer ist Sergio?", fragte der Vater. Ali antwortete: „Mein Freund. Seine Eltern sind
9 erst vor zwei Monaten zugezogen. Sergios Eltern sind arm. Sergio hat noch vier jüngere Ge-
10 schwister. Sein Vater ist Hilfsarbeiter. Sergio geht mit mir zur Schule. Wir
alle haben Velos. Nur
11 Sergio hat keines. Das ist doch ungerecht, Papa." -- „Das ist nicht ungerecht, sondern das ist der
12 Lauf der Welt." — „Und wenn ich ihm eines schenken würde?" — „Das kannst du, wenn du
13 kannst. Du kannst dein Taschengeld sparen, und wenn du genug gespart hast, kaufst du in unse-
14 rem Geschäft ein Velo für Sergio. Ich gebe dir Rabatt." Ali war wütend auf seinen Vater. Und er
15 hatte eine Idee. Er wollte beim Velohändler im Nachbardorf ein Velo stehlen. Der Händler kann-
16 te Ali und seinen Vater. Und er hätte nicht einmal im Traum daran gedacht, Ali könnte mit ei-
17 nem vor der Werkstatt ausgestellten Velo davonfahren. Er bemerkte den Diebstahl erst am
18 Abend, und er rief sogleich den nächsten Polizeiposten an. Ali übergab Sergio das gestohlene
19 Velo nicht selber. Er schnitt aus Zeitungen die Wörter, die er brauchte, heraus und stellte sie
20 dann zu dem Brief „Für dich, Sergio, ein Velo von einem Freund" zusammen. Sergio war glück-
21 lich, seine Eltern waren gerührt. Am glücklichsten aber war Ali.
22 Doch das Glück dauerte nur ein paar Wochen. Dann fand die Polizei das gestohlene Velo -- und
23 den Dieb, nämlich Sergio. Und obwohl Sergio den Brief vorzeigen konnte, glaubte ihm niemand.
24 Sergio beteuerte seine Unschuld, aber schliesslich glaubten ihm nicht einmal mehr seine Eltern.
25 Ali wusste in den ersten Tagen nicht, wie er sich verhalten sollte. Mit einem Schlag war ihm klar
26 geworden, was Diebstahl bedeutet. Ali musste sich einen Plan zurechtlegen. Schon redete man
27 davon, Sergio müsse in ein Erziehungsheim eingewiesen werden. Am nächsten Morgen stand
28 Ali bei Schulbeginn auf und sagte: „Ich habe das Velo gestohlen und diesen Brief gebastelt. Ser-
29 gio ist unschuldig." Niemand glaubte Ali. Auch sein Vater nicht. „Papa", sagte er, „glaub mir,
30 ich bin es gewesen, nicht Sergio. Bitte, Papa, sorg dafür, dass Sergio nichts passiert." Der Vater
31 antwortete nicht. Während Tagen sprach er nicht mehr mit Ali. Und in der Schule lächelten sie
32 über Ali. „Ein Herrensöhnchen, das sich wichtigmachen will", sagten sie. Das konnte Alis Vater
33 nicht ertragen. Er ging zur Polizei und sagte: „Mein Sohn hat das Velo gestohlen. Ich weiss es
34 heute. Und ich weiss auch, warum. Es ist meine Schuld. Gebt meinem Sohn das Recht, der
35 Schuldige zu sein. Und dann Gras darüber. Und Sergio wird sein Velo bekommen."
(nach Walter Matthias Diggelmann)