Zentrale Aufnahmeprüfung 2009
für die Langgymnasien des Kantons Zürich
Textblatt für die Sprachprüfung
Der Kochtopf
01 Nasreddin war in Not geraten. Sein grosser Kochtopf konnte nicht mehr geflickt
02 werden, und ausser diesem besass er nur noch einen kleinen, gerade gross genug,
03 um darin Tee zu kochen. Da Nasreddin jedoch Hunger verspürte, sann er darauf, wie
04 er zu einem grösseren Topf kommen könnte, um sich darin eine Suppe zu kochen.
05 Da kam ihm die Idee, sich bei seinem Nachbarn einen Kochtopf auszuleihen. Er klopfte
06 also an dessen Tür und bat eben darum. Etwas widerwillig stimmte der Nachbar zu.
07 Nasreddin war hocherfreut, sich nun endlich ein richtiges Mahl kochen zu können.
08 Nachdem einige Tage vergangen waren, legte er seinen kleinen Topf in den grossen
09 hinein, klingelte bei seinem Nachbarn und sagte: „Verehrter Nachbar, ich
10 bringe gute Nachrichten. Heute Nacht ist ein Wunder geschehen. Schau her!" Trium-
11 phierend zeigte er dem Nachbarn beide Töpfe. „Mitten in der Nacht hörte ich ein
12 Klimpern in meiner Küche, und wie ich dort ankam, sah ich, dass dein Kochtopf die-
13 sem kleinen das Leben geschenkt hatte." Sein Nachbar war über diese erfreuliche
14 Nachricht entzückt und nahm strahlend beide Kochtöpfe entgegen.
15 Nach einer Weile wollte Nasreddin den Kochtopf erneut ausleihen. „Mit Vergnügen",
16 sagte der Nachbar unverhohlen und glaubte, besonders schlau zu sein, indem er
17 hinzufügte: „Sei vorsichtig mit ihm! Es kommt mir so vor, als ob der Topf wieder
18 schwanger sei, mich dünkt fast, es handle sich diesmal sogar um Zwillinge ..."
19 Aber diesmal gab Nasreddin den Topf nicht rechtzeitig zurück, sodass des Nachbarn
20 Ungeduld wuchs und schliesslich gar in Wut umschlug. Mit vor Zorn blitzenden Augen
21 trat er vor Nasreddins Haus und pochte laut an die Tür. Nasreddin, der das laute
22 Hämmern an der Tür sofort verstand, machte ein tieftrauriges Gesicht, ehe er die Tür
23 öffnete. Er solle ihm, sagte Nasreddin, seine Schwäche verzeihen, aber er habe den
24 Mut nicht gehabt, es ihm zu erzählen. „Du brauchst mir nichts zu erzählen", herrsch-
25 te ihn der Nachbar an. „Ich komme nur, um meinen Topf zurückzuholen!" — „Jedoch",
26 fuhr Nasreddin in traurigem Ton fort, „dein Topf weilt nicht mehr unter uns. Beim
27 Erwachen des Tages ist er verschieden. Gott hab' ihn selig." — „Verschieden?", rief
28 da der Nachbar entrüstet. „Nasreddin, erzähle mir keine Märchen. Wie kann ein Topf
29 sterben?" — „Nun, warum denn nicht?", antwortete Nasreddin. „Wenn du glau-
30 ben kannst, dass ein Topf gebären kann, warum glaubst du dann nicht, dass er auch
31 sterben kann?!"
(Aus der Türkei)