01Als Sechsjähriger verlor ich alles: meinen Kopf, mein Herz, manchmal sogar den Schlaf. Denn
02 ich hatte auch etwas gewonnen: eine neue Nachbarin, gleich alt wie ich, mit rundem, rosigem
03 Gesicht und einem kastanienbraunen, rötlich schimmernden und fast immer zerzausten
04Haarschopf.
05 Ich konnte mich nicht genug wundern: Das Mädchen glich wie kopiert einem kleinen Engel,
06 den ich voriges Jahr auf dem Herbstmarkt gesehen hatte. Wie bettelte ich darum, dieses En-
07 gelchen zu besitzen. Aber die Mutter hatte meinen inständigen Bitten mit dem unverständli-
08 chen, aber verächtlich ausgesprochenen Wort «Kitsch» ein hartes Ende gesetzt.
09 Nicht, dass das Nachbarsmädchen, mit dem ich bald immer und überall zusammensteckte, un-
10 verwandt inbrünstig zum Himmel hinaufgeschielt hätte wie ein Engel. Im Gegenteil: Die Blicke
11 waren ununterbrochen und nach allen Seiten hin unterwegs. Und wenn die Augen einmal still-
12 standen, war dafür im nächsten Augenblick das ganze Mädchen in Bewegung, befand sich
13 gleich dort, wo es irgendetwas Neugiererweckendes ausgemacht hatte. Und genau das ge-
14 schah einmal mit dem Kirschbaum, der einem verbitterten Mann gehörte. Zur Reifezeit der
15 Früchte bewachte er den Baum hartnäckig und eifersüchtig.
16 Das Mädchen liess sich von meinen deutlichen Warnungen nicht abschrecken — schlimmer:
17 Es bestand darauf, dass ich mitginge, als der argwöhnische Mann einmal ausser Sichtweite war.
18 Im Handumdrehen erklomm es den Stamm, verschwand für eine Weile im Bauminnern, wäh-
19 rend ich unten geblieben war, angeblich als Wache, in Wahrheit aus Furcht und weil ich ein
20 schwerfälliger Kletterer war. Schon tauchte das rosige Gesicht mitten in der Krone auf, ganz
21 umgeben von Blättern. Dazu hatten die Kirschen den Mund des Mädchens wunderbar glän-
22 zend geschminkt. Also, das kam mir so unaussprechlich schön vor, dass ich selbstvergessen
23 guckte und guckte und bewunderte. Dann kam der Mann. Er rannte auf den Baum zu. Ein kur-
24 zes Zögern. Der rasch gefasste Entschluss, mir nur zu drohen, dafür Beine und den erhobenen
25 Stock schnurstracks dem Stamm entgegenzuschwingen.
26 In meiner Verwirrnis von Schrecken, Angst und Versagen entfuhren mir die Schreie: «Nicht!
27 Nicht! Ein Engel! Es ist ein Engel!» Die Verzweiflung oder was sonst in meiner überschnappen-
28 den Stimme gelegen haben mag, brachte den Mann zu verdutztem Stillstand. Dann wandte er
29 sich mir zu. Er näherte sich mit den zornig gekeuchten Worten: «Warte, dir treib ich den Engel
30 noch aus!» Ich will damit keineswegs behaupten, dass ich damals stellvertretend für das Mäd-
31 chen Prügel bezogen hätte. Denn laufen, sehr schnell weglaufen konnte ich weit besser als
32 klettern. Und als der um sein Opfer geprellte Mann mit einer abermaligen wilden Richtungs-
33 änderung sich wieder zum Baum hin herumwarf, war kein Mädchen mehr im Laub. Geschwei-
34 ge denn ein Engel.
Nach Hans Manz. Aus Maar, Paul (Hrsg.): «Östlich der Sonne und westlich vom Mond.
Die schönsten Kindergeschichten», Berlin, Aufbau-Verlag, 2006 (2791 Anschläge)