01 Der Schorenhans, ein armer Bauer, welcher um eine witzige Antwort nie verlegen war,
02 sollte vergangenen Sonntag seinem Zinsherrn einen stattlichen Geldbetrag in die
03 Hauptstadt bringen. Weil er fast nichts übrig hatte, um dort einzukehren und etwas zu
04 geniessen, so sagte er zu seiner Frau: „Ich werde mich früh um vier Uhr auf die Beine
05 machen und streng laufen, denn es sind sieben Stunden, so werde ich bis zum Mittages-
06 sen eintreffen und wohl einen Teller Suppe und vielleicht auch ein Glas Wein vom
07 Zinsherrn bekommen.” So tat er denn auch und lief mit seinem Gelde wie besessen.
08 Um zehn Uhr ungefähr verspürte er einen solchen Hunger, dass er glaubte, nicht mehr
09 hingelangen zu können, und fragte daher die Leute, welche des Weges kamen, wann
10 man denn im Hause des Zinsherrn zu Mittag esse. „Am Sonntag um elf Uhr!”, sagten
11 die Leute. So lief der arme Kerl aus allen Leibeskräften. Endlich langte er an, als es
12 eben elf Uhr läutete, und drang atemlos gleich hinter der anmeldenden Dienstmagd in
13 die Stube, mit seinem Geldsäckchen ein Geräusch erregend. Die Familie sass schon am
14 Tische, und die Suppe wurde eben weggetragen. Etwas ungehalten über das Eindringen
15 sagte der Zinsherr: „Gut, lieber Mann! Setzt Euch nur dort auf die Ofenbank und ge-
16 duldet Euch eine Weile!” So setzte er sich erschöpft und wehmütig auf die Bank und
17 sah der Herrschaft zu, wie sie ass und trank, und hörte die Kinder plaudern und lachen
18 und roch den mächtigen Braten, der jetzt hereingebracht wurde. Niemand gedachte sei-
19 ner, bis zufällig der Herr sich zu ihm wandte und sagte: „Und was gibt es Neues bei
20 Euch draussen, guter Freund?” – „Nichts Besonderes!”, erwiderte der Schorenhans
21 schnell besonnen, „als dass merkwürdigerweise diese Woche eine Sau dreizehn Ferkel
22 geworfen hat!” Auf diese Worte schlug die Zinsfrau erbarmungsvoll die Hände über
23 dem Kopf zusammen und rief: „O du lieber Gott! Was machen sie doch aus deiner
24 Weltordnung! Ein Mutterschwein hat ja nur zwölf Zitzchen, wo soll denn das drei-
25 zehnte Säulein saugen!” Der Schorenhans zuckte lächelnd die Achsel und erwiderte:
26 „Es hat’s eben wie ich, es muss zusehen!” Darüber lachte der Hausherr und rief: „Frau,
27 lass dem Bauer einen Teller bringen und gib ihm zu essen von allem, was wir gehabt
28 haben!” So geschah es, er bekam Suppe, Braten und alles Gute, und der Herr schenkte
29 ihm von dem alten Weine in das Glas und gab ihm ein gutes Trinkgeld, als er fortging.
Nach: Gottfried Keller (1819–1890), Die missbrauchten Liebesbriefe