DIE ROSE

Quiz

DIE ROSE

Die Rose
1 Die alte Frau hatte sich endlich aufgerafft und die Wohnung verlassen. Sie schob ihre Ausgänge
2 immer so lange wie möglich hinaus. Sie waren mühsam geworden. Dazu kam eine Scheu, ja sogar
3 Scham, die sie zurückhielten. «Eine gebrechliche Alte ist für niemand ein erfreulicher Anblick»,
4 dachte sie oft.
5 Als sie nun unterwegs war, trippelte, eine Pause einlegte, trippelte, kam ihr ein junger Mann
6 mit welterobernden Schritten entgegen. Er trug einen Strauss roter Rosen. Sein Gesicht war glücklich.
7 Und dieses Glück war so übermächtig, dass er eine der Rosen aus dem Strauss zupfte; er streckte sie
8 der Frau lachend entgegen und stürmte weiter.
9 Da stand sie nun, mit einer geschenkten Rose.
10 In den Blicken der Passanten und Müssiggänger war eine Aufmerksamkeit festzustellen, die ihr ….
11 vorher nicht zugefallen war, fast so, als ob sie selber aufgeblüht wäre. Die alte Frau trug die Rose vor
12 sich her wie eine Trophäe, sie legte sie auch beim Einkaufen im Supermarkt nicht ab.
13 Auf dem Heimweg setzte sie sich in ein Strassencafé. Wie lange hatte sie sich das nicht mehr
14 zugetraut! Sie trank eine heisse Schokolade, beobachtete die Vorübergehenden.
15 Jene, die nicht gleichgültig oder halb blind vorübereilten, warfen — wie sie es erwartete — zuerst
16 einen Blick auf die Rose und erst einen nächsten auf die alte Frau.
17 Es entging ihr auch nicht, dass dann und wann jemand stehen blieb, sich gern gesetzt hätte, aber weil
18 vor dem freien Stuhl neben der Alten eine Rose lag, annahm, dass der Platz besetzt war. Einer,
19 allerdings auch nicht mehr der Jüngste, am Stock gehend, liess sich umständlich nieder, sah erst dann ….
20 die Rose und fragte: «Sitzt hier schon jemand?» — «Nein», sagte die Frau, «diese Rose gehört mir,
21 aber ich schenke sie Ihnen.»
22 Sie merkte, dass der Mann nicht wusste, was er mit der Rose anfangen sollte, und sagte: «Warten Sie
23 ab! Sie werden sich wundern!» Und weil die Rose erste Anzeichen des Verwelkens zeigte, bat sie
24 den Kellner, ein Fläschchen mit Wasser zu bringen, um sie einzustellen. Dann erhob sich die Frau
und sagte zu ihrem Tischnachbarn: «Wenn Sie Zeit und keine zu grosse Abneigung haben — kommen
26 Sie morgen wieder, zur selben Stunde. Ich werde auf Sie warten, um zu hören, was die Rose bewirkt
27 hat.»
(nach Hans Manz)