1. Ein kleiner Hase hatte sich erdreistet, die stolzen Gebärden eines Löwen nachzuahmen und
2. die andern Tiere damit zum Lachen zu bringen.
3. «Ein Hase wagt es, mich zu verspotten!», schrie der Löwe, als ihm sein Freund, der Tiger,
4. davon erzählte. «Bringt ihn her! Er soll vor ein Gericht gestellt und bestraft werden.»
5. Der Hase wurde von zwei Hunden aufgegriffen und vor den Löwen gebracht.
6. Ein Wolf, ein Fuchs, ein Pferd und ein Elefant waren als Richter bestellt.
7. «Ein solcher Fall ist noch nie vorgekommen», brummte ein Bär, «ich bin gespannt, wie das
8. Urteil lautet.» Unter den vielen Zuschauern wurde es mäuschenstill, als der Wolf endlich seine Stimme erhob
10. und sprach: «Ich schlage vor, dem Schuldigen das Herz aus dem Leib zu reissen.»
11. «Einverstanden», sagte der Fuchs, «aber vorher soll ihm die Zunge herausgeschnitten werden!»
12. «Ach», wieherte das Pferd, «zehn Schläge mit einer Haselrute sind für den Kerl Strafe genug!»
13. Nun war der Elefant an der Reihe. Er betrachtete den kleinen Hasen und meinte: «Wenn einer
14. von uns, ein Fuchs oder ein Elefant, sich der gleichen Tat schuldig gemacht hätte, wäre ich mit
15. dem Pferd einverstanden, aber ich glaube, die eben ausgestandene Angst ist für den Schlingel
16. Strafe genug.»
17. «Meinetwegen», knurrte der Löwe besänftigt. «Aber bevor wir ihn laufen lassen, soll er seine
18. Kunst, mich nachzumachen, auch mir selbst vor Augen führen.»
19. Zitternd versuchte der Hase, vor dem Löwen auf und ab zu stolzieren, den Kopf zu schütteln,
20. als ob er eine Mähne trüge, und auch zu knurren.
21. Da musste der Löwe so laut über sich selber lachen, dass er am Ende zu den Richtern sagte:
22. «Geht und holt ihm ein paar frische Rüben! Er hat sie verdient.»
Aus Max Bolliger: «Der aufgeblasene Frosch», ZKM-Verlag
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